Die Kunst des Erzählens ist untrennbar mit der Kunst des Zuhörens verbunden. Eine Gesprächsform, in der das aktive Lauschen besonders kultiviert wird, ist der generative Bohm’sche Dialog.von Albert Vinzens, Berenike Stolzenburg, erschienen in Ausgabe #63/2021
Der Quantenphysiker David Bohm war mit Albert Einstein und Niels Bohr befreundet. Doch während diese großen Erneuerer der Physik irgendwann wegen ihrer theoretischen Differenzen nicht mehr miteinander reden konnten, suchte Bohm mit beiden das Gespräch jenseits theoretischer Fixierungen. Anfang der 1960er Jahre lernte Bohm das Buch »The First and Last Freedom« (»Schöpferische Freiheit«) von Jiddu Krishnamurti kennen. Er stieß darin auf die Frage nach der Selbstbeobachtung des Denkens. Bohm traf Krishnamurti 1961 in London persönlich. Er war von dem Inder tief beeindruckt; zwischen dem westlichen Intellektuellen und dem Lehrer des östlichen Denkens entstand eine Art Freundschaft, die bis zu Krishnamurtis Tod 1986 andauerte.
Bohm begann sich in dieser Zeit mit Kommunikationswissenschaft zu beschäftigen. Dabei wurde für ihn der Engländer Owen Barfield, der damals am Buch »Die Evolution des menschlichen Bewusstseins« arbeitete, wegweisend. In der Auseinandersetzung mit Barfield stellte Bohm eine zentrale Schwierigkeit in unserem gegenwärtigen Denken fest, die er »Fragmentierung« nannte. Es ist eine Form des analytischen Denkens, »das alles zerteilt und aufspaltet«. Im Dialog (wörtlich: »Fließen von Worten«, von griechisch diá, »hindurch« und lógos, »Wort«) sah Bohm die Chance, das fragmentierte Denken zu erkennen und langsam in ein Denken der Verbundenheit (»Interbeing«) zu verwandeln. Es geht darum, den eigenen Gedanken, Motiven und Annahmen auf den Grund zu gehen. Das Tempo des Gesprächsaustauschs wird verlangsamt, es entsteht etwas jenseits von Debatten und Diskussionen. Wer spricht, darf immer aussprechen. Die Einteilung in »hier die Probleme« und »dort die Lösungen« wird zugunsten einer gemeinsamen Suche nach Sinn und Wirklichkeit ersetzt. Dadurch entsteht ein intensiv erfahrbares Kohärenzgefühl.
Albert Vinzens Wie würdest Du die erste Begegnung zwischen David Bohm und Jiddu Krishnamurti in einem Bild beschreiben?
Berenike Stolzenburg Krishnamurti ist wie der Hüter der Quelle an einem heiligen Ort. David Bohm kommt aus einem auf-geregten Leben. Er geht unsicher, wankt ein wenig und trifft an diesem besonderen Ort auf Krishnamurti. Die Ruhe hat für ihren Austausch eine große Bedeutung.
AV Bohms Frau Sarah erzählte nach seinem Tod, die erste Sitzung zwischen ihm und Krishnamurti hätte in absoluter Stille stattgefunden. Kann es sein, dass dieses Schweigen damit zusammenhing, dass Krishnamurti gleich die Rolle des Hüters der Quelle einnahm, und Bohm nicht damit zurechtkam und deshalb schwieg?
BS Vielleicht war es so, vielleicht war es jedoch schlichtweg eine unendliche Wohltat für Bohm, schweigen zu dürfen, gemeinsam schweigen zu können.
AV Wir wissen, dass sich Bohm lange auf diese für ihn wichtige Begegnung mit diesem Meister vorbereitet hat und wie wichtig ihm diese war. Vielleicht hatte er so ein Gefühl, ähnlich wie in den Bergen, wenn es über Nacht einen halben Meter Neuschnee hinlegt und du unmittelbar vor dem Moment stehst, die ersten Tritte in diese unberührte Welt zu tun …
BS Das ist ja unglaublich! Während du sprachst, erinnerte ich mich an ein Bild aus dem ersten »generativen Dialog«, den ich mitmachte. Da gab es anfangs eine unsäglich lange Zeit des Schweigens. Dabei durchzogen mich verschiedene Gedanken: »Was soll das hier? Warum macht niemand den Mund auf?!« Irgendwann fing ich an, die Stille zu genießen. Als dann jemand anfing zu sprechen, war es, als ob die ersten Schritte auf das Feld mit dem Neuschnee gemacht würden.
AV Wenn du sagst, dir sei, während ich sprach, eine Erinnerung eingefallen, frage ich mich, wie gut du zugehört hast?
BS Ich sehe sofort ein, worauf du mich aufmerksam machen möchtest: Es sind zwei Paar Stiefel, nur stillzusitzen, nichts laut zu sagen und dabei Dinge in sich zu bewegen, oder zu schweigen und aufmerksam zu lauschen und so den großen Raum der Quelle zu hüten. Wenn Schweigen zur Erfahrung wird, kommt uns beiden erstaunlicherweise das Bild von einer unberührten Schneelandschaft in den Sinn.
AV Kennst du auch die Sehnsucht, diese reine, unberührte Landschaft unbetreten zu lassen und keine Spur zu legen? Und dann tust du es doch und bist natürlich irgendwie froh, weißt aber auch, dass du etwas zerstört hast.
BS Ja, das kenn’ ich gut. Ich hinterlasse Fußstapfen, ob ich will oder nicht, allein dadurch, dass ich im Dialog das Wort ergreife. Das ist oft mit Schmerz verbunden.
AV Wie war das mit dem ersten Bild im Märchen von Schneewittchen? Der schwarze Fensterrahmen, die Blutstropfen im Schnee? – An dem Punkt, wo du etwas sagst, rollst du den roten Faden für das weitere Geschehen aus.
BS Im Alltag geschieht dies in einem fort: Wir denken, reden und handeln nach unserem Duktus und schaffen Fakten. Im Dialog sind gleichzeitig die anderen da, als Wächterinnen und Wächter, als Hütende des Quellorts.
AV Mir scheint der Hinweis an dieser Stelle wichtig zu sein, dass die Rollen unter den Dialogteilnehmenden ständig wechseln. Die Gespräche zwischen Krishnamurti und Bohm waren wohl sehr schwierig – vermutlich deshalb, weil Kirshnamurti seine Rolle als Hüter der Quelle nicht freigab. Wenn so etwas im Dialog passiert, ist der freie Sinnfluss gestört und es entstehen Hierarchien.
BS Jeder hat reichlich zu tun im Dialog – vor allem mit sich selber. Manchmal denke ich, der Dialog ist ein öffentlicher Ort für Selbstbeobachtung und Selbstführung.
AV Ich hatte lange geglaubt, diesen Ort gäbe es für mich nur im stillen Kämmerlein, wo ich an mir arbeite. Dass dies gemeinsam mit anderen in einem Dialog besser gelingen kann, weiß ich erst, seit ich solche Dialoge mit dir und anderen durchführe.
BS Ich habe jetzt erwartet, dass du sagen würdest, seit Beuys und seiner Documenta-Aktion »Hundert Tage direkte Demokratie« sei dir das klar geworden.
AV Nein, das ist mir nicht eingefallen. Vermutlich deshalb nicht, weil die direkte Demokratie um Beuys nur mäßig funktionierte, da er zum Guru gemacht wurde – und selber einiges dazu beigetragen hat. Das ist sicher ein ziemlich hartes Wort.
BS Und doch war Beuys unentwegt am unmittelbaren Dialog interessiert und nah dran.
AV Ja, Beuys ist vermutlich nicht das Problem …
BS … er war an der Sache dran, die zwischen uns Menschen permanent Probleme schafft. Für ihn war jeder Mensch ein Künstler, ihm ging es um die Verwandlung dessen, was an Barrieren zwischen uns besteht, was uns determiniert und unkünstlerisch sein lässt.
AV Das ist sein großes Werk, dieses totale Zutrauen in den Einzelnen. Im Bild vom Hasen und Igel gesprochen, war Beuys schon da, wo Bohm mit dem Dialog noch hinwollte …
BS … wobei die Betonung auf dem Wörtchen »hinwollte« passt, denn von David Bohm heißt es, dass er in den großen Dialog-runden, die er initiierte, über die Maßen viel und oft gesprochen habe. Ob dies eine Legende ist oder der Wahrheit entspricht, kann ich nicht einschätzen. Die Herausforderung, sich zum anderen dialogisch ins Verhältnis zu setzen, besteht jedenfalls für jeden, auch für ihn.
AV So gesehen, muss ich das Bild vom Hasen und Igel wieder zurücknehmen. Anscheinend ist niemand von uns näher am Ziel als andere. Wir sitzen alle im gleichen Boot, das passt besser. Joseph Beuys drohte wegen seines Sendungsbewusstseins rauszukippen, Bohm wegen seiner großen Skepsis dem Denken gegenüber, ich wegen anderer Charakterprägungen und du wegen nochmals -anderer …
BS Dennoch hat David Bohm am Ende seines Lebens etwas angestrebt, das es so vor ihm noch nicht gab – angestrebt und als Möglichkeit in die Welt gestellt.
AV Ich fände es schön, wenn du das hier zum Schluss nochmals beschreiben könntest!
BS Ja, aber davon haben wir es doch vorhin schon gehabt!
AV Dann kannst du es ja nochmals sagen.
BS Bohm hat einen hierarchiefreien Ort der Begegnung ein-gefordert. An diesem Quellort ist jede und jeder Hüter und Wächterin für das, was entstehen will.
AV Und das daraus emergierende Wissen geht weiter als das geschriebene Wort, etwa in Ratgeberbüchern und dergleichen …
BS … ist Keim, ist Funke für Neues. //
Berenike Stolzenburg und Albert Vinzens sind diplomierte Dialogfacilitators (GFK-Institut Zürich). Sie geben Kurse und Seminare. In Kassel bieten sie seit fünf Jahren einen kontinuierlichen Dialogkreis an und arbeiten an dem Buch »Gemeingut Dialog«.
Weiterlesen? David Bohm: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen, hrsg. von Lee Nichol, Klett-Cotta, 1998.