Eine Kunstaktion lädt zur Meditation übers Warten ein.von Christina Rode, erschienen in Ausgabe #63/2021
Seit drei Jahrzehnten arbeite ich als freischaffende Holzbildhauerin im Tollense-tal in Mecklenburg-Vorpommern. Holz ist mein Material, meine Herausforderung, mein Lebenselixier – manchmal brauche ich einen Balken, einen Klotz, einen Stamm nur anzusehen, und schon erzählt er mir, was er werden möchte, welche Figuren sich darin verbergen. Diese versuche ich dann, zunächst mit der Kettensäge, später mit Stechbeitel und Hammer, freizulegen. Ich gehe in meinen Prozess mit der Vision und dem Material, welches mich immer wieder herausfordert, meine Vorstellung zu bewegen. Dabei entstehen immer wieder menschliche Figuren. Diese sind keine Personen. Die Skulpturen zeigen Emotionen, sie sind Verkörperungen von Empfindungen, von Seinsweisen, von archetypischen Qualitäten.
2009 bearbeitete ich drei uralte Balken vom Kirchengut Strellin bei Greifswald. Die daraus hervorgegangenen, annähernd lebensgroßen Holzskulpturen nannte ich »Für die Ängstlichen«, »Für die Tragenden« und »Für die Ungeduldigen«. Um sie besser fotografieren zu können, fuhr ich sie mit der Sackkarre aus dem Schummerlicht ihres damaligen Standorts ins Freie. Es regnete, und der einzige Unterstand weit und breit war eine Bushaltestelle. Was geschah, nachdem ich die Skulpturen unter der Überdachung des Bushäuschens aufgestellt hatte, verblüffte mich: Passanten hielten an, unterbrachen spontan ihre Alltagswege und kamen miteinander ins Gespräch über das, was sie da sahen – über die Kunst, das Menschsein, sich selbst. Plötzlich war eine Idee geboren, und ich wusste, dass ich mit diesen Skulpturen auf Reisen gehen, alltägliche Lebensräume und -orte verzaubern, Menschen berühren und sie dazu einladen und herausfordern wollte, sich selbst, die Figuren und ihre Umgebung neu wahrzunehmen!
2012 schuf ich vier weitere Skulpturen, in ähnlichem Format, sitzend und lebensgroß – »Für die Töchter«, »Für die Söhne«, »Für die Mütter« sowie »Während in der wirren Glut das Gras wächst«. Nun war die Gruppe komplett, und im Frühjahr 2013 begann »Die Reise der Wartenden«. Das Prinzip ist einfach: Eine Patin, ein Pate reist mit einer Skulptur (auf der Sackkarre) – wenn möglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln – an vorab vereinbarte Orte in öffentlichen Räumen oder Gebäuden: Marktplätze, Bahn- und Gehsteige, Parks, Kindergärten, Klassenzimmer, Hörsäle, Kirchen usw. Jede Skulptur führt ein Tagebuch bei sich, in das die bepatenden wie auch die vorbeikommenden Menschen Wahrnehmungen, Assoziationen und Gefühle aus Sicht der wartenden Figuren eintragen können. Die Möglichkeiten dieses Projekts hatte ich mir vorstellen können, die tatsächlichen Begegnungen überstiegen jedoch meine Erwartungen: Diese Reise kann die Welt und die Menschen verzaubern. So begegnete etwa die Patin der Skulptur »Für die Mütter« unterwegs überraschend ihrer eigenen Mutter, zu der sie ein angespanntes Verhältnis hatte, und konnte diese zum ersten Mal seit Jahren wieder umarmen. Auf einem Bahnsteig in Stettin zauberten wartende Menschen ein Kofferradio hervor und begannen, inmitten der wartenden Holzskulpturen Tango zu tanzen. Einmal, zu Ostern ging die Reise in den Wald, es war für uns eine Art Rückführung. Sind hier vielleicht einst jene Bäume gefällt und zu jenen Balken verarbeitet worden, aus denen ich dann drei Jahrhunderte später die ersten drei Wartenden herausarbeiten sollte?
Das Reisen – über Land oder in den Städten, zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln – ist die eine Seite des Unterwegsseins; das Warten die andere. Ich habe selbst viel mit den Wartenden gewartet und dabei erfahren, dass immer wunderbare Sachen auf mich zukommen, wenn ich wahrnehme, annehme und zulasse, dass gerade nichts passiert. Meine Figuren warten nicht darauf, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten möge, sondern sind aktiv Wartende, aktiv Wahrnehmende, aktiv Zulassende. Eine frühere Arbeit von mir hieß »Kurz vor dem Sprung« – und das ist die Qualität, die mich am meisten interessiert: der Moment, während Veränderung geschieht; dieser besondere Zustand zwischen Ent- und Anspannung, jener Augenblick höchster Potenzialität, an dem das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht trägt.
Seit September 2019 ruhen die Wartenden in der Hochschule Neubrandenburg. Nachdem sie dort über das Campusgelände und durch die Hörsäle gereist waren, dachte ich: Hier können sie erst mal überwintern. Dann kam der Corona-Lockdown. Inzwischen ist der zweite Winter vergangen, und es wird Zeit, sie zurück in mein Atelier zu holen. Wie mag die Reise der Wartenden wohl weitergehen? Warten wir’s ab.