Wie mich Bruce Chatwin dazu inspirierte,
auf verklungene Mammute zu lauschen.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #63/2021
Mit Mitte zwanzig stieß ich in einem Antiquariat in Mittelengland auf Bruce Chatwins »Anatomy of Restlessness« (»Der Traum des Ruhelosen«) – und fühlte mich erkannt. Das ist etwas, was Bücher leisten können: denjenigen, die sie lesen, das Gefühl zu vermitteln, erkannt und mit ihrem So-Sein nicht allein zu sein. Eine Abteilung der posthum erschienenen Essay-Sammlung war mit »The Nomadic Alternative« (»Die nomadische Alternative«) überschrieben und enthielt drei kurze Texte, in denen Chatwin die Umrisse eines geplanten, jedoch nie fertiggestellten Buchprojekts gleichen Titels skizziert hatte. Darin hatte er eine Kulturgeschichte des Nomadischen schreiben wollen und konnte daran nur scheitern – zum einen, weil die Lebenswirklichkeiten der Vielzahl an nomadisch und teilnomadisch lebenden Menschen zu unterschiedlich sind, um auf einen Nenner gebracht zu werden; und zum anderen, weil es gar nicht nur das Nomadische war, das Chatwin zeitlebens umtrieb, sondern vor allem seine eigene unstillbare Unrast. Wohl mehr an sich selbst als an den adressierten Verleger Tom Maschler gerichtet, fragte Chatwin einmal in einem Brief: »Warum werde ich nach einem Monat an einem einzigen Ort ruhelos, unausstehlich nach zweien?«
Ich selbst fühlte mich damals weniger deshalb zum Nomadischen hingezogen, weil ich damit romantische Vorstellungen eines freien, ungebundenen Unterwegsseins verbunden hätte, sondern eher deshalb, weil ich ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Verwurzelung hatte und das gefühlte Übermaß an mir zur Verfügung stehender Freiheit einzuhausen suchte. Nomadisch lebende Menschen ziehen eben nicht völlig frei und ungebunden umher, sondern sind in ein enggewirktes Gewebe aus sozialen und landschaftlichen Bezügen eingebettet.
Einige von Chatwins Reflexionen über das Nomadische sollten schließlich in seinen in Australien spielenden Roman »The Songlines« (»Traumpfade«) einfließen. Nun, da er sein Sachbuchprojekt verworfen und es sich erlaubt hatte, durch literarische Einfühlung über die Welt des rein Faktischen hinauszugehen, ließ Chatwin die Songlines als eine der Erde eingeschriebene, Raum und Zeit überschreitende Urkraft erahnen. Während so mancher ethnologische Ansatz Songlines auf ihre Funktionalität als Wissensspeicher in der Landschaft – auf ein gedachtes Wegenetz zwischen Wasserlöchern, Nahrungsquellen und Lagerplätzen – reduziert, erlaubte Chatwin es sich, zu träumen und sich durch die Kraft einer Bilderwelt jenseits rationalistischer Erklärungen inspirieren zu lassen:
»Ich habe eine Vision von Songlines, die sich über Kontinente und Zeiten hinweg erstrecken; dass die Menschen nämlich überall dort, wo sie einen Fuß auf die Erde setzten, Gesänge hinterlassen haben (deren Nachhall wir vielleicht hie und da noch erhaschen mögen); und dass diese Pfade in Zeit und Raum zurückreichen müssen bis zu einer abgeschiedenen Senke in der afrikanischen Savanne, wo das erste Menschenwesen – allen es umgebenden Schrecken zum Trotz – den Mund öffnete und die erste Strophe des Weltensangs -hinausgellte: ›Ich bin!‹«
Wenn ich heute auf Nebenwegen durchs Herz der Uckermark fahre oder der »Märkischen Eiszeitstraße« durch alte Buchenwälder folge und dabei das sonore, markerschütternde Trompeten der Mammutherden, die hier vor mir trotteten, oder das Lied eines besonderen Buchenbaums, der mich nicht diesen, sondern jenen Pfad einschlagen lässt, höre, dann vermag ich nicht zu sagen, ob die Rufe und Gesänge dem Land, jenen, die es vor mir durchschritten haben, oder mir selbst entspringen. Aber das spielt keine große Rolle – in solchen Momenten tiefen Lauschens, in denen ich nicht will, sondern bin.