von Ute Scheub, Christian Schorsch, erschienen in Ausgabe #63/2021
Aus welcher Materie wir Menschen bestehen und was Materie überhaupt ist – das bleibt trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse rätselhaft. Das ist die Quintessenz von Fabian Scheidlers neuem Buch »Der Stoff, aus dem wir sind«. Für mich liest sich das als gute Nachricht: Kosmos, Natur und menschliche Körper entziehen sich der technokratischen Kontrolle, die Welt bleibt ein Ort voller Wunder.
In unseren Bildungsinstitutionen, so kritisiert der Autor, wird nach wie vor ein völlig falsches Bild von der Welt gelehrt, als sei sie ein »Lego-Bausatz« von unverbundenen Atomen. »Elementarteilchen« aber sind keine Teilchen, denn im Inneren der Materie gibt es nichts Festes mehr, »nur schwingende Felder von Energie«, die sich äußerst seltsam verhalten. Der Begriff »Quantenmechanik« ist ebenso falsch, denn nichts an Quanten funktioniert mechanisch.
In einer einzigen Zelle, heißt es weiter, rasen rund zehn Billionen Moleküle, die ihrerseits aus Tausenden Atomen bestehen, durch den Raum. Zellen sind so komplex, dass sie sämtliche Computerleistungen um viele Größenordnungen sprengen. Ein einzelner Mensch besteht aus rund 30 Billionen Zellen! Eine Biologie, »die Leben aus mechanischen Vorgängen zu erklären versucht«, müsse scheitern, so Fabian Scheidler.
Woher stammt dann aber ein falsches, mechanistisches Weltbild, das auf primitiver Kausalität beruht und die Innenwelten von Lebewesen völlig ausblendet? Es ist wohl immer auch ein Abbild der herrschenden Ökonomie. Das antike Griechenland, das die Idee der unverbundenen unteilbaren Atome erfand, war gemäß dem Autor »die erste durchkommerzialisierte Gesellschaft«. In der Neuzeit seien die auf Berechenbarkeit ausgerichteten Naturwissenschaften parallel zum expansiven Kapitalismus entstanden. Viele ihrer Vordenker wie Francis Bacon oder Isaac Newton seien in großen Aktiengesellschaften engagiert gewesen. Um Ausbeutung zu rechtfertigen, sei es sehr nützlich zu behaupten, die Welt bestehe aus atomisierten Teilchen und atomisierten Menschen.
Fabian Scheidler sieht diese »große Trennung« zwischen Geist und Natur, Körper und Seele aber auch als Folge von Traumatisierung. René Descartes, der die gesamte Welt als Maschine begriff, hatte im Dreißigjährigen Krieg als Söldner gedient. Kriegstraumata äußern sich nicht selten in totaler emotionaler Taubheit, und Descartes’ Denken ist durchzogen von dieser eisigen Kälte. Er schreckte nicht davor zurück, Tiere bei lebendigem Leib zu zerlegen.
Einmal mehr spielt der Autor vom »Ende der Megamaschine« auch in diesem Buch seine große Stärke aus: die kreative Verknüpfung aller möglichen Denkströmungen, in diesem Fall: Physik, Biologie, Philosophie, Geschichte, Soziologie, Ethnologie und Psychologie einschließlich Traumaforschung. Ein großartiges, lohnenswertes Buch! Ute Scheub
Als ich einst im Hütekreis fragte, welche Buchlektüre Menschen zu empfehlen sei, damit diese erstmalig in die Oya-Perspektive eintauchen könnten, schallte es sofort aus mehreren Richtungen: Charles Eisenstein! Mittlerweile bin ich selbst ein großer Fan dieses Autors. Jedoch ist mir auch bewusst geworden, dass sein gefühlvoller Zugang zu einem lebendigen Weltbild, in dem alles mit allem verbunden ist, nicht für jede und jeden das Richtige ist. Fabian Scheidler leistet nun mit »Der Stoff, aus dem wir sind« das im Grunde überfällige Kunststück, exakt jene Zielgruppe zu adressieren, die Eisenstein als »zu spirituell« oder gar als »Esoteriker« abtut. Dabei kommt Scheidler in seinen disziplinübergreifenden, naturwissenschaftlichen Überlegungen letztlich zum gleichen Ergebnis wie Eisenstein: nämlich zu einer Welt, die bis hinunter in ihre kleinste Strukturebene und in ihr tiefstes Inneres lebendig zu sein scheint! Nicht etwa, weil die Wissenschaften dies bewiesen hätten, sondern, weil die Forschungsergebnisse der letzten 100 Jahre auch solch eine Perspektive ermöglichen. Dazu verwendet Scheidler eine vergleichsweise einfache Ausdrucksweise, viele sprachliche Bilder und anschauliche Beispiele aus dem Alltag, so dass auch Laien ihm gut folgen und ins Staunen geraten können. Auf äußerst beeindruckende Art führte mir das Buch vor Augen, dass die beiden Erkenntniswege des Denkens und Fühlens auf einen gemeinsamen, sich vereinigenden Punkt zusteuern. Das bisherige Paradigma basierte auf der Ideologie von einer grundlegend nur aus toter Materie bestehenden und beliebig zerleg- und zusammensetzbaren Welt. Die Möglichkeit, dass wir den auch daraus folgenden Krisenpfad auch durch rationale Einsicht noch verlassen können, stimmt mich froh und hoffnungsvoll.
Das Buch ist ein Muss für alle, die sich der Wissenschaft verbunden fühlen! Es bekräftigt den in mit Oya verbundenen Kreisen bereits eingeschlagenen Kurs der sozialen Erneuerung sowie der Wiedervereinigung unserer zivilisatorischen Errungenschaften mit dem fast vergessenen Wissen indigener Traditionen, welches wir heute wohl dringender brauchen als je zuvor.
Bestärkt hat mich zudem die gute und erweiterte Zusammenfassung meiner eigenen Erkenntnisse im Hinblick auf Fragen zu Leben, Bewusstsein, Subjektivität und letztendlicher Wahrheit, die ich mit diesem Werk in den Händen halten darf – allen voran vermutlich die folgende Einsicht: »Womöglich gibt es ja tatsächlich die eine objektive Wahrheit!? Im Vergleich zu den vielen subjektiven Wirklichkeiten in dieser Welt bleibt sie jedoch recht bedeutungslos.« Christian Schorsch
Der Stoff, aus dem wir sind Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen. Fabian Scheidler Piper, 2021 304 Seiten ISBN 978-3492070607 20,00 Euro