Wie das Kinderzirkuscamp im Lassaner Winkel einmal nomadisch wurde.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #63/2021
Seit 2005 veranstaltet ein kleiner Kreis künstlerisch engagierter Menschen auf der Campwiese von Klein Jasedow Kinderzirkuscamps. Anfangs war die Wiese noch nicht als privater Zeltplatz ausgewiesen, deshalb brauchten wir jedes Jahr eine Ausnahme-genehmigung. 2010 wurde sie uns nicht erteilt. Was tun? Ausfallen lassen kam nicht in Frage, zu sehr war der Zirkus für die Kinder aus der Umgebung zum Höhepunkt der Sommerferien geworden. Meine Schwester Katharina, zuständig fürs Kochen und Voltigieren, machte schließlich einen Vorschlag: Sie könnte ihr Pferd vor ihre Kutsche spannen und Zirkusutensilien und Zelte aufladen. So könnten wir von Ort zu Ort ziehen und dort, wo es uns gefiele, eine Vorführung geben. Wir gestanden einander, dass wir alle schon heimlich von einer Zirkuskarawane geträumt, aber uns so eine Aktion bislang nicht zugetraut hatten. Jetzt blieb uns gar nichts anderes übrig.
Mit zwei Dutzend Kindern zogen wir los, nachdem wir am Klein Jasedower See drei Tage lang ein Theaterstück eingeübt hatten. Die Mirabellenallee hinunter ging es in die alte Stadt Lassan am Peenestrom. Als wir das Fuchsmoor hinter uns gelassen hatten und durch die Bäume, die prall voller Früchte hingen, auf die blaue Peene schauten, durchfuhr mich grundlos ein Glücksschauer. Es war genau richtig, hier zu wandern, hinein ins Ungewisse. Die erste Generalprobe in Lassan auf einem Spielplatz war eine Katastrophe. Die Feuerschlange verknäulte sich, die Akrobatik-Krake kam nicht vorwärts. Auf der Bühne am Hafen waren jedoch alle in Hochform. Die Kinder hatten sich ein Stück über einen Fischer und eine havarierte Ölplattform ausgedacht. Weil wir nicht auch noch ein Bühnenbild auf den Wagen laden wollten, stellten die Erwachsenen im Hintergrund Algen dar. Alle spielten gleichzeitig, weil sich niemand hinter den Kulissen verstecken konnte. Das brachte eine große Fokussierung mit sich, alle waren entspannt, aufeinander eingestimmt. Am Schluss gab es donnernden Applaus.
Die Nacht verbrachten wir im Lassaner Schützenhaus. Der Boden war hart, die Wände muffelten, die Dielen knarrten, Jugendliche aus Lassan polterten mitten in der Nacht an die Tür. Doch am Morgen schien die Sonne, auf dem Weg ins abgelegene Dorf Wangelkow lockte der Berliner See. Schnell wurde es heiß, die Luft flirrte, die ersten kleineren Kinder wollten auf Bolllerwagen gezogen werden. Die größeren wanderten tapfer weiter. Der See rettete uns. Wieder überfiel mich dieses Glück des Unterwegsseins. Wir waren geborgen hier in dieser Landschaft, wir kannten die schönsten Seen und die gastfreundlichsten Dörfer, waren die beste Zirkuscrew im Lassaner Winkel! Am Abend führten wir, ohne vorher zu proben, unser Stück erneut auf, diesmal am Wangelkower See. Es klappte wie am Schnürchen, das Stück passte perfekt an das poetische Seeufer.
Die Nacht in Wangelkow am Feuerplatz neben dem Heuschober hatte ich mir so schön vorgestellt. Aber kaum lagen wir in den Schlafsäcken, brach eine Streiterei zwischen den Mädchen unter meiner Obhut aus. Dann kamen die Mücken. Und dann hämmerten Techno-Bässe quer über den See; jemand feierte auf der anderen Seite eine Party. Wir überlegten, dorthin zu gehen und um Ruhe zu bitten, aber der Weg hätte ein weites Stück durch einen unbekannten Wald geführt. So hofften wir auf ein baldiges Ende des Krawalls – leider vergeblich. Es war schon fast im Morgengrauen, als mir Thomas, der Tanzpädagoge, eine Decke über die Schultern legte, und ich auf einer Bank am Heuschober einschlief. Am Morgen saßen die Kinder übernächtigt am Feuer, manche meinten, gar nicht geschlafen zu haben.
Jetzt aber ab nach Hause! Wir beluden den Wagen und beneideten Katharina, die auf dem Kutschbock sitzen durfte. Was waren wir für eine lausige Karawane – die Esel und Kamele fehlten! Die Kinder wanderten tapfer los, doch irgendwann saßen sie heulend am Straßenrand. Sie wollten doch am Abend die tolle Aufführung auf die Bühne bringen, denn heute würden die Eltern und Großeltern zuschauen. Da schalteten wir die Mobiltelefone an und organisierten Unterstützung. Drei Kleinbusse brachten die müdesten Kinder nach Hause.
Die Aufführung war dann wie immer grandios – mit Feuerschlange, Akrobatik-Krake und dem Schlusssong, den Carmen, die damals elfjährige Nachwuchs-Regisseurin, für unser Stück erfunden hatte. Die Sonne ging während der Show hinter der Seebühne am Klein Jasedower See unter, alles war gut. Wir Wandernden waren in unserer Heimat ein Stück mehr nach Hause gekommen. Nur drei Tage nomadisch unterwegs – und schon blättert die -zivilisatorische Schicht der Sesshaftigkeit ab. Noch viele Jahre haben wir den nächsten Zirkusgenerationen am Lagerfeuer von unserem kleinen Karawanensommer erzählt.