Wie das Einbeziehen des Wissens über Zyklen helfen kann, den individuellen und kollektiven Alltag zu meistern.von Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #63/2021
Eines der ersten Dinge, die Melina in ihrer Gemeinschaft tat, war, eine große Scheibe im Wohnzimmer aufzuhängen, auf der Zyklen abgebildet waren: Jahreszeiten, Tageszeiten, Mondzyklen. An der Scheibe sind die Namen der Gemeinschaftsmitglieder mit Klammern angebracht – das soll ihnen helfen, sich zu organisieren. Jeder Zyklusphase sind Qualitäten und Aufgaben zugeordnet, die von der jeweiligen Person gehütet werden, wie zum Beispiel Pünktlichkeit oder das Gießen der Pflanzen. Alle klemmen ihre Klammer an die Zyklusphase, der sie sich gerade zugehörig fühlen: Osten/Frühling/Morgen, wenn sie voller Träume und Begeisterungskraft sind; Süden/Sommer/Mittag, wenn sie Lust haben, ganz viel zu schaffen und/oder für Pünktlichkeit und Disziplin zu sorgen; Herbst/Westen/Abend, wenn sie für das Ernten und Feiern in der Gemeinschaft sorgen wollen; und Winter/Nacht/Norden, wenn sie gerade in der Leere sind. »Im besten Fall unterstützen die Aufgaben, die ich dann tue, den Zustand, in dem ich sowieso schon bin«, erzählt mir Melina. »Bevor ich meine Tage bekomme, habe ich zum Beispiel Lust, es uns so richtig gemütlich zu machen, aufzuräumen und auszumisten, damit ich mich dann ganz fallen lassen kann. Dann ist es sinnvoll, in der Gruppe genau diese Aufgaben zu übernehmen und dies explizit zu machen. Für mich steckt eine große Kraft darin, meinen Menstruationszyklus zu nutzen und zu versuchen, jede Phase mit ihren Qualitäten wertzuschätzen. Besonders für das Leben in Gemeinschaft sehe ich große Potenziale darin, wenn wir unsere Prozesse zyklisch organisieren.«
Als ich die schönen Zyklen mit den Klammern daran im gemeinschaftlichen Wohnzimmer sah, musste ich schmunzeln. Irgendwie scheinen sich gerade alle um mich herum für Zyklen zu begeistern und alles Mögliche daran zu orientieren und zu organisieren.
Sich die eigenen kulturellen Wurzeln wieder aneignen
Das Modell der »Acht Schilde«, welches heute oft genutzt wird, baut auf den vier Himmelsrichtungen auf und entstammt dem Weltverständnis nordamerikanischer Indigener. Es wurde von weißen Männern nach Europa gebracht. Ich fühle mich schnell unwohl, wenn indigenes Wissen von Europäern aufgegriffen und auch vermarktet wird. Deshalb habe ich mich gefragt, ob es nicht auch in unserer Kultur Modelle gibt, die von den Kreisläufen des Lebens sprechen. Hier im hessischen »Land der Frau Holle« nahe dem Hohen Meißner liegt der Gedanke, dass es einen ewigen Kreislauf von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt geben könnte, quasi vor der Haustür. Menschen hier glaubten früher, dass die Holle auf einem Wagen mit großen Rädern (als Symbol für Kreislauf) durch die Lande fuhr, um die Seelen zu holen und zu bringen, um Fruchtbarkeit zu geben, die Menschen zu beschützen und Krankheiten zu heilen. Da meine Gemeinschaft in einer alten Mühle lebt, gefällt mir jene Geschichte am besten, in der die Frau Holle Menschen in eine »Altweibermühle« steckt, wo sie sie altern lassen oder verjüngen kann – ein weiteres Bild für das große Rad des Lebens. Zyklen sind also überall. Sie stecken im Modell der Acht Schilde, in den Methoden des »Community Building« und des »Dragon Dreaming«, im Adventskranz, im Rad der Frau Holle oder im Osterfest, das auch als christianisiertes Jahreskreisfest verstanden werden kann.
Es schien uns in der Fuchsmühlen-Gemeinschaft eine gute Idee, auch unseren Alltag zyklisch zu organisieren, wenn schon das Wesentliche da draußen so deutlich zyklisch verläuft. Also begannen wir damit, uns an den Mondzyklen zu orientieren. In der Woche um Neumond versuchten wir, mehr Stille und Leere einzuladen; wir reduzierten Besuche von außen und schwiegen am Tag des Neumonds. Für jeden Mondzyklus bestimmten wir ein paar Menschen, die ihn gestalten würden. Bei zunehmendem Mond gab es ein Anfangsritual. Daran schloss sich eine Phase des Träumens und Planens an; bei Vollmond feierten wir oder machten eine öffentliche Veranstaltung. Dann, gegen Ende des Zyklus, fokussierten wir uns auf die »Ernte« und das Reflektieren, um schließlich wieder in die Stille einzutauchen.
Wenn der Rest der Welt allerdings eher wie eine Dampflok funktioniert, die immer schneller wird, ist es ein schwieriges Unterfangen, sich in Kreisläufen zu bewegen. An vielen Stellen sind wir mit unserem Experiment gescheitert. So heftig einst der Wandel von einem Verständnis des »Natur sein» und damit auch des »Zyklus sein« hin zu einem maschinistischen Weltbild gewesen sein muss, so tapsig sind nun die Schritte hin zum Wiedererleben von Kreisbewegungen.
Die Commons-Forscherin Silvia Federici schreibt in »Caliban und die Hexe« eindrücklich, wie die Einhegung der Allmende mit ihrem Höhepunkt im 16. Jahrhundert einherging mit der Verwandlung des Körpers in eine Arbeitsmaschine und der Unterordnung der Frauen in die Arbeitskraftproduktion. Mit der Einhegung und der Zerschlagung der Macht von Frauen durch die Hexenverbrennung wurde Wissen um Heilung, Jahreskreisfeste, Rituale und die körpereigenen Zyklen (und damit unter anderem auch das Wissen um Verhütung) zerstört. Auf diese Weise verloren die Menschen laut Federici die größte Quelle ihrer Widerstandskraft gegen die Herrschaft der Feudalherren oder die Lohnarbeit. Ein neues Weltbild wurde geboren, das besagt: Alles ist berechenbar und – bis auf den menschlichen Geist – nichts weiter als eine komplizierte Maschine.
Und jetzt? Wir wohnen in beheizten, hellen Räumen, essen im Winter Tomaten und sperren Tod und Geburt in fremde Häuser. Menschen unserer Zeit werden selbst zu kleinen Dampfloks, die auf losen Linien durchs Leben preschen und weder vom Vollmond noch von der Wintersonnenwende noch von der Initiation ihrer Söhne und Töchter viel mitbekommen.
Rumo, mit dem ich nun ein halbes Jahr in der Fuchsmühlen-Gemeinschaft zusammenlebe, erzählte mir: »In der Forschungsgruppe, in der wir versuchen, wieder mehr Verbindung zu unseren Zyklen aufzubauen, machten wir einmal eine Meditation, bei der wir in unsere ›innere Zykluslandschaft‹ geführt wurden. Ich erschrak, als ich mich in einem kriegsverwüsteten Land wiederfand.« Rumo ist der einzige mir bekannte Mann, der sich überhaupt für Zyklen interessiert; er gehört mittlerweile sogar zwei Forschungsgruppen an, in denen sich Menschen verschiedener Geschlechter über ihre Erfahrungen mit zyklischem Leben austauschen.
Wie können wir die verlorenen Pfade wiederfinden, und welche Rolle spielt dabei Gemeinschaft? Was können wir mehr tun, als nur die Fassade antikapitalistisch anzumalen, während wir unter den gleichen inneren Selbstverständlichkeiten nunmehr nicht fürs Kapital, sondern für die »befreite Gesellschaft« arbeiten? Wie können wir tiefer in unserem Sein in der Welt ansetzen?
Wackelige Gehversuche
Ich traf mich also mit Rumo und Melina, um noch mehr über ihre Gehversuche hinein in diese tieferen Schichten zu erfahren. Dabei entstand ein Gespräch über unsere ganz persönlichen Zugänge zu Zyklen und darüber, an welchen Stellen es uns gelingt, sie uns wieder mehr anzueignen.
Rumo kannte bereits das Modell der Acht Schilde, als er auf einen zyklischen Kalender stieß und sich erlauben konnte, diesen zu mögen. »Manchmal glaube ich, dass ich als Mann Zyklen nicht gut finden darf, weil das durch den Menstruationszyklus so weiblich besetzt ist«, erzählt er mir, »dann denke ich, dass ich als feministischer Mann den Menschen, die Menstruation erleben, diesen Raum lassen muss.« Schließlich sei in ihm aber eine Sehnsucht nach der Frage, was wohl sein eigener Zyklus sei, immer mehr gewachsen. »Was bedeutet das für mich? Diese Sehnsucht kam auch aus einem Bedürfnis nach mehr Orientierung und mehr Verbindung mit mir und der Natur.«
Für Melina ist die physische Veränderung in ihrem Körper am nächsten und dadurch auch am präsentesten. Das heiße aber noch lange nicht, dass sie seit dem Einsetzen ihrer Menstruation bewusst zyklisch lebe: »Viele Jahre lang habe ich einfach geblutet und dabei die ganze Zeit so weitergemacht wie immer; ich hatte keinen Bezug dazu.« Dass ihr Zyklus relevant ist, habe sie bei ihrem Übergang ins Erwachsensein nicht mitbekommen. Seit wenigen Jahren erst beschäftigt sie sich damit. Melina berichtete, dass sie aufzeichne, wann sie ihren Eisprung und ihre Tage habe, und dass sie auch notiere, wie es ihr dabei geht. Dies helfe ihr.
Rumo erklärte darauf, dass er jeden Abend notiere, wie er sich den Tag über gefühlt hatte: »Ich zeichne auf, wie mein Körper und meine Gedanken waren und ob ich eher intro- oder extrovertiert war. Meine Zyklen sind aber nicht monatlich.« Rumo berichtete auch von seinen Versuchen mit Ritualen zwischen den Mondphasen, um einen Zyklus zu beenden und neue Dinge einzuladen.
An manchen Stellen während unseres Gesprächs musste ich über uns selbst lachen und komme mir vor wie eine verkleidete Dampflok, die versucht, plötzlich wie ein Mond zu sein.
Das mit den Zyklen scheint immer komplexer zu werden, je länger wir darüber sprechen: Wie können wir als Gemeinschaft zusammenkommen, wenn wir ganz unterschiedliche Zyklen haben? Oder liegt genau darin eine Kraft? Als Rumo von einem persönlichen Anteil erzählt, den er als »brutalen Durchhaltetypen« beschreibt und der ihn immer wieder davon abhalten will, in seinem Zyklus mit den dunklen und hellen Seiten zu leben, lachen wir erneut. In Gemeinschaft scheint es zudem oft noch schwieriger, den eigenen »Herbst« und »Winter« überhaupt zu spüren und dann noch die Verwegenheit an den Tag zu legen, dösend auf der Eckbank zu liegen, während alle anderen Frühjahrsputz machen.
An vielen Stellen unseres Experiments in der Gemeinschaft stand auch ich oft ratlos da, wenn wir beispielsweise versuchten, den »Herbst« und »Winter« kollektiv zu gestalten. Wenn ein Zyklus zu Ende ging und wir folglich ernten und reflektieren wollten, waren plötzlich alle mit scheinbar Wichtigerem beschäftigt. Unsere Versuche, die Übergänge vom Schaffen ins Ruhen und vom Ruhen ins Schaffen bewusst zu gestalten, und auch dem Sterben und Abschließen eines Zyklus Raum zu geben, fühlten sich sehr ungeübt an. »Wir können richtig schlecht sterben«, würde wohl der Philosoph Byung Chul Han, der unter anderem das Buch »Müdigkeitsgesellschaft« geschrieben hat, dazu sagen.
Die Außenwelt funktioniert anders
Das Lachen über unser Scheitern bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung unserer Begeisterung über Zyklen tut gut. Wir wissen nicht, wie es sich wirklich anfühlen würde, die Kreisläufe in und um uns bewusst wahrzunehmen und mit ihnen immer verbunden zu sein, aber hier und da können wir kleine wohltuende Elemente in unser Leben einweben.
Am Ende unseres Gesprächs sagte Rumo: »Kurz nachdem ich in der Mediation in meine vom Krieg verwüstete Zyklenlandschaft gereist bin, sah ich ein Bild von Tschernobyl. Dort wachsen jetzt riesige Bäume und es gibt eine große Biodiversität. Ich weiß, dass auch ich Natur bin, und ich erfahre mich manchmal auch so. Da gibt es in mir auch eine Kraft, die alles wieder wachsen lassen kann. Für mich ist das Zyklische nicht dasselbe wie diese Kraft, aber es scheint mir der Rahmen zu sein, der dieser Kraft den Raum gibt.« Ich bin dankbar, Menschen um mich zu haben, die sich mit mir in dieser postkapitalistischen Kraft üben wollen! //