Permakultur

Über Komplexität

Meine Rolle als Teil des Systems »Selbstversorgergarten«.von Marc Dannhausen, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© Marc Dannhausen

In permakulturellen Betrachtungen wird oft von »Systemen« oder gar »komplexen Systemen« gesprochen. Doch was ist ein System und was bedeutet eigentlich Komplexität? Ist mehr Komplexität besser als weniger? Und wie hilft mir das Wissen darüber bei meiner Permakultur-Gestaltung? Die nachfolgende Auseinandersetzung ist vor allem als Einladung zu verstehen, sich näher mit diesem Themenkomplex zu beschäftigen. Mit Blick vor allem auf den eigenen Selbstversorgergarten möchte ich eine Annäherung an Antworten auf die oben genannten Fragen versuchen.

Was ist ein System?

Am einfachsten können wir uns ein System als ein Netz vorstellen, als eine Verbindung von Dingen oder Ereignissen. Diese Verbindung kann aus einfachen Abhängigkeiten, aber auch aus unüberschaubaren Rückkopplungsschleifen bestehen. Dazu zwei Beispiele. Erstens: Ein vereinfacht dargestelltes Heizsystem ist simpel zu durchschauen: Der Thermostat reagiert auf fallende beziehungsweise steigende Temperaturen, indem er die Heizung ein- oder ausschaltet, um die Temperatur zu regeln. Ist das System aber einmal in Gang, stellt sich die Frage, ob der Thermostat die Temperatur regelt oder die Temperatur den Thermostat regelt. Beide beeinflussen sich gegenseitig und lösen dadurch bestimmte gewollte Ereignisse aus. Solange weitere Einflussfaktoren ausgeschlossen werden können, handelt es sich damit um einen einfachen Regelkreislauf, der weder kompliziert noch komplex ist. Zweitens: Ein Straßennetz, das hauptsächlich aus Einbahnstraßen besteht, ist zunächst schwierig zu durchblicken. Man könnte auch sagen, es ist kompliziert. Von Komplexität würde man hier aber noch nicht sprechen, denn mit etwas Geduld kann man sich die einzelnen Straßenverläufe einprägen und sich so in diesem Netz zurechtfinden. 

Damit dieses Straßennetz zum komplexe System wird, müssten gegenseitige Abhängigkeiten zwischen den Elementen des Systems eingebaut werden. Zum Beispiel ließe sich die Richtung der Einbahnstraßen vom Verkehrsaufkommen abhängig machen. Die Straßenführung ist nun hoch variabel: Je nach Verkehrsdichte ändert sich die Richtung der Einbahnstraßen, so dass der Verkehr zügig fließt und Stauungen vermieden werden. Wenn sich die Richtung der einen Straße ändert, ändern sich aber auch die Richtungen der jeweils angeschlossenen Straßen, was wiederum die Verkehrsdichte in diesen Straßen beeinflusst. So entsteht ein Rückkopplungsmechanismus, der es unmöglich macht, die Verkehrsführung mit einem Blick auf die einzelnen Straßen zuverlässig vorherzusagen. Ein komplexes System ist also im Wesentlichen charakterisiert durch seine Elemente beziehungsweise Ereignisse; durch     Rückkopplung zwischen den Elementen/Ereignissen; durch seine Bestimmung, Aufgabe, Funktion oder seinen Nutzen sowie durch die Unvorhersehbarkeit seines Verhaltens.

Systeme erschaffen sich selbst

Diesen Vorgang können wir beobachten, wenn wir auf einer Fläche den Boden freilegen oder einen Erdhügel sich selbst überlassen. Bei der »Sukzession« bedecken zunächst Pflanzen mit sehr kurzer Vegetationsdauer den Boden. Diese Pionierpflanzen verändern die Bedingungen in einer Weise, dass sie selbst nicht fortbestehen können, aber sie machen Platz für Pflanzen der nächsten Sukzessionsstufe und so weiter. Unterschiedliche Arten, Pflanzen und Tiere siedeln sich an und gehen sichtbare oder unsichtbare, direkte oder indirekte Verbindungen miteinander ein. 

In der Biologie ist derartige Selbstorganisation gleichbedeutend mit Evolution, und diese ist immer als Koevolution zwischen sich verändernden Organismen und ihrer Umwelt zu sehen. Ein Lebewesen, das infolge einer genetischen Veränderung nicht mehr fliegen kann, wird einen völlig neuen Lebensraum erschließen und seine Umwelt entsprechend mitgestalten. Dadurch geraten die bereits ansässigen Pflanzen und Tiere ebenfalls unter Anpassungsdruck. Lebende Systeme sind somit in der Lage, neue Strukturen und Verhaltensweisen zu schaffen und sich so selbst komplett zu verändern. 

Dieses Verhalten zeigt, dass ein komplexes System mehr ist als die bloße Summe seiner Teile: Seine Elemente stehen in permanenter Wechselwirkung zueinander und verändern so immer wieder das Verhalten des Gesamtsystems. Etwas höher Organisiertes entsteht, das sich aus dem bloßen Beobachten der einzelnen Elemente nicht ableiten lässt. Das Fachwort dafür lautet »Emergenz«. 

Die Elemente eines Systems – zum Beispiel die Pflanzen und Insekten sowie der Boden eines Gartens – können ihrerseits als Systeme betrachtet werden. Der Garten wiederum ist Element einer Wohnsiedlung und so weiter. So besteht beinahe jedes komplexe System aus kleineren Systemen und bildet zusammen mit anderen wieder größere Systeme mit übergeordneter Funktion. Notwendig für den Erhalt eines Systems ist Energiezufuhr von außerhalb. Dies geschieht in Form von Wärme oder Nahrung; in der Wirtschaft kann der Input die Form von Geld und in sozialen Systemen die Form von Kommunikation annehmen.

Wegen der starken Verknüpfung zwischen den Systemen beziehungsweise mit ihrer Umwelt ist eine klare Trennung,  wie ich sie oben vorgenommen habe, nicht immer einfach. Die Grenzen eines Systems werden erst durch die Beobachtenden definiert, indem sie unterscheiden zwischen innen und außen, zwischen Baum und Wald, Mensch und Gemeinschaft, Garten und Gärtnerin. Dabei ist das eine ohne das andere gar nicht denkbar. Die Grenzen sind derart durchlässig, dass eher von Übergängen die Rede sein sollte, etwa am Waldrand: Hört der Wald bei der letzten Baumreihe auf oder im niedrigen Gestrüpp, das weit in die Landschaft ragt? Oder reicht er vielleicht bis dort, bis wohin seine Bewohner aus ihm heraustreten?

Systemdenken im Garten

In unserer komplexen Welt, in der scheinbar irgendwie alles mit allem zusammenhängt, ist eine Vereinfachung jedoch durchaus sinnvoll. Sie hilft uns, einzelne Vorgänge zu verstehen und sinnvoll zu reagieren. So reicht es zunächst, zu begreifen, dass ich den Boden meines Gartens gesund erhalten muss, damit die Pflanzen in Gesundheit wachsen können und ich gesunde Früchte ernten kann. Wie genau die dafür geeigneten Maßnahmen auf den Boden wirken, ist zwar interessant, Wissen darüber ist aber nicht zwingend erforderlich.

Was passiert, wenn ich die Verbindung zwischen einzelnen Elementen kappe oder ein Element entnehme? Ganz einfach: Ich muss die Verbindung durch eigenes Tun wiederherstellen. Wenn ich Fruchtgemüse, das auf Fremdbefruchtung angewiesen ist, im geschlossenen Gewächshaus ziehe, kappe ich dadurch die Verbindung zwischen dem Gemüse und den befruchtenden Insekten. Ich werde also keine Früchte ernten können – es sei denn, dass ich gelegentlich die Tür öffne, ein Hummelvolk mit einschließe oder selbst mit dem Pinsel bestäube.

Wenn ich die Population einer einzelnen Insektenart komplett auslösche, hat das Einfluss auf ganze Nahrungsketten. Denn dieses Insekt fehlt dann auf der einen Seite als Futter und auf der anderen Seite als Fressfeind anderer Tiere. Und es wird weitere Effekte geben, da Insekten in eine Vielzahl von Beziehungsgefügen eingebettet sind. Wenn ein Insekt fehlt oder ich keine Lust mehr auf Erdbeeren habe und die Pflanzen herausnehme, wird das System Garten bestehen bleiben, aber mit veränderter Struktur.

Als Gärtner bin ich selbst Element dieses Systems und übernehme die Aufgabe, einerseits Störungen von außen auszugleichen und andererseits zu verhindern, dass sich der Garten selbstorganisiert bis zur Wildnis weiterentwickelt. Ich fördere Stabilität, indem ich beispielsweise mit einem Wassermanagement der Austrocknung vorbeuge sowie dem Wuchern von Brombeeren und Gehölzsämlingen entgegenwirke. So wie Vegetation und Tierpopulationen auf meine Maßnahmen mit Gedeihen oder Flucht reagieren, beeinflusst deren Verhalten mein Handeln. 

Als Permakulturgärtner fördere ich Komplexität, indem ich den Garten vielfältig und eher kleinteilig gestalte. Das heißt, es gibt Mischkulturen, es gibt kleine Flächen mit unterschiedlichen Kulturen, die beispielsweise durch Obststräucher voneinander getrennt sind, und nicht zuletzt auch niedrige und höhere Pflanzen, um wärmere oder schattigere Habitate zu schaffen. Des Weiteren gibt es unterschiedliche Zonen, je nach Intensität der Bewirtschaftung und/oder Aufenthaltshäufigkeit. Die folgende Zonierung wurde erstmals durch Bill Mollison vorgenommen, sie ergibt sich aber in der Gartenpraxis wie von selbst. Zone 1: Hütte (das ist der Ort mit der größten Aufenthaltshäufigkeit der Gärtnerin); Zone 2: hauptsächlich intensivere Kulturen; Zone 3: dauerhafte Kulturen wie Obst, aber auch weniger intensive Kulturen wie Kartoffeln; Zone 4: Weide und Futterpflanzen (im Garten nicht vorhanden); Zone 5: nicht bewirtschaftete, »wilde« Fläche

Die Komplexität kann sich von Zone zu Zone deutlich unterscheiden. Aber dadurch, dass ich diese unterschiedlichen Zonen überhaupt habe, lasse ich im Gesamtsystem Garten ein hohes Maß an Komplexität zu – insbesondere dort, wo die Zonen ineinander übergehen.

Neben Stabilität und Komplexität fördere ich auch die Resilienz, was soviel bedeutet wie Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit. Sie entsteht durch ein hohes Maß an »Biodiversität«: das Vorhandensein möglichst vieler unterschiedlicher Arten, ein hohes Maß an genetischer Vielfalt der Arten sowie eine Vielzahl unterschiedlicher Ökosysteme, in denen diese Arten leben. Eine hohe Biodiversität bedeutet gleichzeitig eine hohe Komplexität. Mit gezielten Maßnahmen schon in der Planungsphase lässt sich dafür sorgen, dass das System nicht zugrunde geht, wenn ein Element ausfällt oder eine Verbindung aufgelöst wird. Zum Beispiel sollten verschiedene Elemente im Permakulturgarten dieselbe Aufgabe erfüllen: für den Fall, dass eines ausfällt, oder auch um Lücken im zeitlichen Verlauf zu vermeiden. Als Beispiel seien Pflanzen genannt, die übers Jahr gleichzeitig oder nacheinander blühen und somit durchgängig Nektar für Insekten liefern. Außerdem sollten die einzelnen Elemente möglichst viele Aufgaben erfüllen beziehungsweise Nutzungsmöglichkeiten bieten. 

Zu viel Komplexität?

Im Gemüsebeet, wo Feingemüse wie Karotten und Kohlrabi steht, halte ich hingegen die Komplexität so gering wie möglich, damit es nicht von schneller wachsendem Begleitkraut überwuchert wird. Hier muss ich ständig eingreifen und den Boden mechanisch mehr oder weniger frei von »wildem« Bewuchs halten. Auch dadurch, dass ich den Untergrund von Wühlmäusen freihalte, dämme ich Komplexität ein.

 In einem naturnahen Garten können Regeln greifen, die auch in natürlich gewachsenen Landschaften vorkommen und das System am Leben halten. Es gibt dort Pflanzennachbarn, die sich gegenseitig begünstigen beziehungsweise die vorhandenen Ressourcen unterschiedlich nutzen. Gleichzeitig bleibt Raum für nicht vorhersehbare Entwicklungen, etwa die Ansiedlung weiterer Pflanzen und Tiere – und zwar erst einmal unabhängig davon, ob sie als »Nützling« oder als »Schädling« daherkommen. Hier gilt es, Selbstregulation zu nutzen und Feedback zu akzeptieren. 

Gibt es Schädlinge im Garten, zum Beispiel Blattläuse, dann weiß ich, dass jemand davon profitieren wird: als erste die Ameisen, als zweite Marienkäfer und ihre Larven, als dritter ich selbst. Zum einen kann ich entspannen und muss aufgrund dieser Selbstregulation nicht tätig werden, zum anderen erfreue ich mich an der Vielfalt der Käfer. Ein Feedback kann gleichzeitig positiv und negativ ausfallen. Wenn ich nämlich Salatrauke (Rucola sativa) im stark gedüngten Tomatenbeet aussäe, bekommt diese zwar große Blätter, die den Boden gut beschatten, ihr Geschmack aber ist miserabel. 

Gärtnern und beobachten!

Wenn ich das Verhalten meines Systems »Selbstversorgergarten« immer wieder beobachte, erkenne ich wiederkehrende Muster. Auch wenn diese nur ein Bruchstück dessen darstellen, was insgesamt passiert, kann ich lernen, mit der Komplexität umzugehen und geeignete Lösungen für bestimmte Probleme zu finden. Die Dynamik komplexer Systeme macht deutlich, wie wichtig kleine und langsame Schritte sind, weil kaum zu ermessen ist, welche Rückkopplungsschleifen jeweils in Gang gesetzt werden. Kleine Eingriffe lassen sich außerdem leichter rückgängig machen, wenn die Entwicklung meinen Erwartungen entgegenläuft.

Das heißt: Je weniger ich in Gartensysteme eingreife und je mehr Komplexität ich zulasse, desto weniger Aufgaben muss ich übernehmen, um es gesund und leistungsfähig zu halten. Gleichzeitig ist das geduldete Höchstmaß an Komplexität erreicht an der Grenze, wo die angestrebte Nutzbarkeit endet, zum Beispiel im Feingemüse- oder Anzuchtbeet. //



Marc Dannhausen (49) ist Diplompädagoge (Erwachsenenbildung), war lange Zeit als Redakteur tätig und hat 2019 die Ausbildung zum Permakulturdesigner begonnen. In seinem Selbstversorgergarten bei Hannover sammelt er Erfahrungen bei der Anwendung der Permakulturprinzipien.


Literatur zum Weiterlesen:
Humberto Maturana/Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis; 
Klaus Richter/Jan-Michael Rost: Komplexe Systeme; 
Niklas Luhmann: Soziale Systeme; 
Jürgen Beetz: Feedback; 
M. Mitchell Waldrop: Inseln im Chaos; 
Donella H. Meadows: Die Grenzen des Denkens

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