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Wovon wir leben (Buchbesprechung)

von Grit Fröhlich, erschienen in Ausgabe #63/2021
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Essen ist keine individuelle Angelegenheit. Sobald ich esse, bin ich in Beziehung - mit Pflanzen und Tieren, mit ganzen Landschaften, mit Lebensmittelerzeugern und Hungernden, mit Lebewesen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Beim Essen zeigt sich, welchen Platz ich mir und anderen in diesem Beziehungsgefüge zugestehe. Essen ist in »Wovon wir leben« der französischen Philosophin Corine Pelluchon von Anfang an eine ethische Angelegenheit. Sie stellt die Ökologie in den Mittelpunkt einer Existenzphilosophie, die den Körper und sein Fühlen zum Ausgangspunkt nimmt und sich wohltuend von den Irrwegen eines Heidegger unterscheidet. Dass unsere Existenz von anderen abhängt, ist für Pelluchon kein Anlass zur Sorge. Ihre Phänomenologie der Nahrung entwirft das Bild einer nährenden Umwelt, in die wir sinnlich eingetaucht sind und die wir mit anderen Arten teilen. Erfahren wir die Welt als Nahrung, so ist unser Verhältnis dazu ursprünglich durch Lust und Genuss geprägt. Gemeint ist im weitesten Sinn alles, wovon wir uns nähren: Lebensmittel ebenso wie Luft, Licht, Arbeit und kulturelle Veranstaltungen. Viele Krisen in unserem Verhältnis zur Welt rühren Pelluchon zufolge daher, dass wir den Kontakt mit der Welt als Nahrung verloren, weil wir uns vom Fühlen abgeschnitten haben. Das Gegenmittel, auf das sie setzt, ist das Vertrauen in die Sinne, vor allem in den Geschmackssinn.

Dieses Verständnis einer nährenden Umwelt hat politische Konsequenzen: Das gerechte Teilen der Nahrung wäre der Ausgangspunkt jeder Politik. Dank des Geschmackssinns und des ästhetischen Sinns für das Schöne wäre dabei Gerechtigkeit stets mit dem Genuss am Leben verbunden, gutes Essen mit dem guten Leben sowie die Selbstachtung mit der Achtung vor anderen Wesen. Corine Pelluchon entwirft einen »neuen Gesellschaftsvertrag«, der auch die Interessen zukünftiger Generationen sowie anderer Arten ins Gemeinwohl einbezieht. Ihm zugrunde liegt ein Menschenbild wie bei Emmanuel Levinas, wo im Selbst stets die Beziehung zum Anderen und somit auch die Verantwortlichkeit enthalten ist. Pelluchon propagiert eine »neue Aufklärung«, die nicht von der Beherrschung der Natur, sondern von der Liebe zum Leben geprägt ist und die Großzügigkeit der Welt als Nahrung feiert. Welche Rolle Medien und Schule dabei spielen könnten, scheint zwar stark idealisiert. Abgesehen davon ist es eine originelle Philosophie, die Tierrechte und Ernährungssouveränität, alternative Formen von Landwirtschaft und Städtebau wie Permakultur, Agroforstwirtschaft und Transition Towns thematisiert. Die Lektüre ist nicht einfach –philosophische Vorkenntnisse sind nötig – doch es lohnt sich, die heute brennendsten ökologischen und ethischen Fragen mit Corine Pelluchon in neuen Zusammenhängen zu denken.  


Wovon wir leben
Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt.
Corine Pelluchon
wbg, 2020
416 Seiten
ISBN 978-3534272419
50,00 Euro

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