Kaospilotin Jara von Lüpke, Oya-Chefredakteurin Lara Mallien, Lehrerin Silke Weiß, Philosoph Bertrand Stern und Theaterpädagoge Dominik Werner forschen gemeinsam über den inneren Impuls, sich zu bilden.von Lara Mallien, Jara von Lüpke, Bertrand Stern, Silke Weiß, Dominik Werner, erschienen in Ausgabe #19/2013
Vor kurzem habe ich die Geschichte meines Lernwegs aufgeschrieben. Zuallererst blitzte dabei ein Moment auf, in dem ich wohl sieben Jahre alt war: Ich sitze mit meiner Mutter im Wald an einem kleinen Bächlein, und wir spielen Blockflöte. Es ist einer der ersten warmen Föhntage im oberbayerischen Voralpenland im März. Der Seidelbast und die Märzenbecher blühen, und wir spielen für uns, für die Vögel, für den plätschernden Bach und für die ganze Welt. Dieser Moment war »vollständig«. Aus ihm kann ich mehr »Bildung« schöpfen, als ich in Worten ausdrücken kann. (L. M.)
Ist es nicht in höchstem Maß dramatisch, dass wir einzelne Momente einer wichtigen Erfahrung in Erinnerung behalten, wo in Wirklichkeit ein ganzes Leben von wesentlichen Momenten geprägt sein könnte, ja müsste? Jede Erfahrung wie eine Perle, kostbar an und für sich, und dennoch gereiht in eine wunderbare Kette … Frei-sich-Bilden ist ein Prozess, der den Menschen an sich kennzeichnet, hätte dieses wahnhafte zivilisatorische System nicht immer neuere, bessere »Gefängnisse« erschaffen und gebaut – jede Person könnte ihrer Natur gemäß sich unentwegt dieser dynamischen Herausforderung hingeben. Weshalb ist für viele Menschen die Erinnerung an einzelne und besondere Momente in ihren ersten Lebensjahren so wesentlich? Könnte jener Lebensabschnitt nicht nur voller Entdeckungen gewesen sein, sondern vor allem weitgehend jenseits einer wahnhaften Zielgerichtetheit und Zweckgebundenheit der Erfahrungen? Diese Unbedingtheit hätte fortgesetzt, erweitert, potenziert, optimiert werden können, wäre sie nicht jäh unterbrochen, unterbunden worden, als der »Ernst des Lebens« in Gestalt von Kindergarten, Schule, Arbeit usw. die Person ereilte. (B. S.)
Als ich etwa neun Jahre alt war und die meiste Zeit mit den Tieren und meinen Freunden im Hinterhofgarten verbrachte, bemerkte ich erstmals diese Bilder in den Tier- und Umweltheften für Kinder, die ins Haus flatterten: von der allgegenwärtigen Lebenszerstörung in Meeren und Wäldern, aus Kriegsgebieten und Tschernobyl. In mir breiteten sich tiefe Verzweiflung und Wut aus. Der Zusammenhang war schnell klar: Hinter all diesen Zerstörungen standen immer Menschen! In meinem Kinderkopf entwickelte sich die Idee einer vermeintlichen Lösung. Bilder von menschenleeren Städten rauschten durch meine Fantasien. Ich dachte daran, alle Menschen umzubringen, um die Erde mit allen nicht-menschlichen Lebewesen zu retten. Aber konnte ich denn auch nur einen Menschen töten? War das eine echte Lösung? Es beschäftigte mich einige Wochen. Meine damalige Erkenntnis, dass die Menschen Teil dieser lebenden Welt und alle allmächtigen Rettungsvorstellungen vermessen sind, wirkt bis heute nach. Es war ein Prozess der tiefen inneren Bildung im Dialog mit der Welt. (D. W.) Sich-Bilden ist doppelgesichtig: Stets geht es hierbei um das Einbetten eines persönlichen Prozesses in einen sowohl humanen, also sozialen, als auch kulturellen Kontext, in ein entweder natürliches oder gesellschaftlich gemachtes, gewordenes Umfeld. So bilden beispielsweise mein Sprechvermögen und die Sprache ein dialektisches Ganzes; während mein Sprechen stets in der Einzahl bleibt –als Merkmal meiner Identität – kann der soziokulturelle Aspekt eine Mehrzahl sein: Können Menschen nicht zwei-, drei-, kurz: mehrsprachig aufwachsen und in ihrem Leben dies unentwegt erweitern, vorausgesetzt, die Dynamik wird nicht unterbrochen, schlimmer: gebrochen? Der Prozess, frei sich zu bilden, offenbart eine Qualität, die ich gerne – Gerald Hüther zitierend – als »Begeisterung« umschreiben will. Womit ja nicht nur das Enthusiastische gemeint ist, sondern auch der Geist, von dem jedes Wesen beseelt ist und der jedem Sich-Bilden selbstverständlich innewohnt. Nur wo Frei-sich-Bilden als identitäre Kern-Erfahrung und wo Bildung als kulturelles Merkmal menschlichen Geistes schlechthin nicht mehr enteignet, entfremdet, etwa verschult werden, wird die Entfesselung der kreativen Potenzen zu völlig anderen, originellen, innovativen Horizonten führen. (B. S.)
Ich stehe in einem Fluss von Wissen. Um meine Sprungsteine auf dieser Reise über Stock und Stein zu illustrieren, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, einmal im Monat eine Karte zu zeichnen. Auf einem großen Papier schreibe ich den Monat in die Mitte und rundherum alle möglichen Treffen, Gespräche mit Menschen, in denen es Bildungsmomente gab. Zwischendrin überall kleine gezeichnete Symbole: Leuchtende Glühbirnen für neue Ideen, Menschen mit klopfenden Herzen und stolz erhobenen Armen als ein Zeichen für die Herausforderungen, die ich gemeistert habe. Die Bildung jedoch, die mich und meine Persönlichkeit formt, die Erkenntnisse, die mich auf eine bestimmte Art und Weise mit anderen Menschen in Begegnung treten lassen, wie ich mich in Gruppen verhalte oder meine Sicht auf die Welt – das ist schwieriger zu beschreiben. Meine Suche nach meinem Ort in der Welt, nach meinem Beruf, beziehe ich auf diese beiden Ebenen. Ich suche einen Platz, wo ich meine Fähigkeiten einbringen kann, wo ich gebraucht werde. (J. v. L.)
Nachdem sie hörte, welche Vorstellungen und Ideale ich von meinem Sein als zukünftige Lehrerin hatte, geprägt von meiner langjährigen Jugendarbeit, sagte die Berufsberaterin in meiner Schule: »Sie sind für die Regelschule schon verdorben.« Dieser Satz fiel mir später oft ein, wenn ich mit dem System haderte. Es gab in meinem Leben immer wieder Menschen, die mit einem Satz, der sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat, Spuren hinterlassen haben. Mein erster Englischlehrer, Father John, ein knapp 70-jähriger Benediktinermönch, nannte mich immer »die Professer in die Ecke«. Ich war zu dieser Zeit noch keine besonders »gute« Schülerin und habe nicht verstanden, was er meinte. Später wurde mir klar, dass er meinen Wissensdurst hatte sehen können. Menschen, von denen ich lernen konnte, haben wohl etwas in mir gesehen, das ich so selbst nicht erkennen konnte – wie eine Art Spiegel von außen, der mein Bild so präzise zurückgibt, dass eine sehr starke Resonanz entsteht. (S. W.)
Jenseits des Zweckgebundenen Wer sich heute bilden soll oder will, absolviert Programme: In der Schule und auf der Universität kauen die Menschen Lernstoff in vorgegebenen Häppchen herunter, um für die sogenannte Leistungsgesellschaft fitgemacht zu werden. Dass Bildung mit einem vorgefertigten Lehrplan und in vom »normalen« Leben abgetrennten Räumen gleichzusetzen sei, ist eine starke, kollektive gesellschaftliche Prägung, die sich selbst in Seminaren auf dem freien Markt niederschlägt. Lässt sich Bildung auch anders denken? Jenseits des Geplanten? (L. M.)
Nicht die Planbarkeit an sich scheint mir das Kernproblem zu sein, sondern die Frage, ob es dem Prozess, frei sich zu bilden, schadet, wenn Bildung entsprechend in Form gebracht wird. Zumeist soll »Planbarkeit« offensichtlich eine Zielgerichtetheit beschreiben, die bedingt, dass eine hypothetische, erwartete »Zukunft« erobert, bezwungen, unterworfen werden müsse, um den erwarteten Profit als Belohnung für das geleistete Selbst-Opfern abzuwerfen. Planen artikuliert eine Betonung des Werdens, welches im Widerspruch zum Sein steht, dieses Sein lähmt, erstickt, verunmöglicht. Das Kennzeichen des Seins – des Da-Seins, So-Seins, Jetzt-Seins – ist eine ihm innewohnende Dynamik, die bedingt, dass sein Potenzial sich entfalten (rückbezüglich!) will – und muss! (B. S.)
Was unterscheidet eigentlich eine Lehrsituation von den Situationen im »normalen« Leben? Ich mag diese Momente des tiefen Versinkens in einem Thema, das mich interessiert, mit Gleichgesinnten. Das immer tiefere Forschen nach Erkenntnis und Wahrheit – darin liegt ein Zauber. Das kann »einfach so« im alltäglichen Leben passieren, aber ich glaube, wenn gute Lernangebote die richtigen Menschen zusammenrufen, können sie sich genausogut in einer geplanten Situation ereignen bzw. erhöht sich dort sogar ihre Wahrscheinlichkeit. Vorbereitung und Raum können Bildungsprozesse sehr gut unterstützen. Warum es am Ende Scheine braucht, die mich zertifizieren, weiß ich auch nicht. Meine Erfahrung aus der Lehrerbildung zeigt, dass sich die Qualität des Austauschs und der gemeinsamen Erforschung umso mehr verschlechtert, je wertvoller eine Fortbildung aus der »Scheinperspektive« ist. (S. W.)
Meine Sehnsucht nach Struktur und die Einsicht in ihren Wert konnte ich erst zulassen, als ich selbst direkt mit der Nase darauf gestoßen bin. Mein Curriculum möchte ich auf jeden Fall selbst kreieren und nicht auf einem Silbertablett serviert bekommen. Wie ich mich bilde, ist für mich genauso wichtig wie die Frage nach den Inhalten meines Lernens: »Was willst du erreichen? Was ist mein Lernziel, und welches Projekt bringt mich dem näher?« Mich dies kontinuierlich zu fragen, bedeutet, mir selbst gegenüber verantwortlich zu sein und mich in meinem eigenen Prozess zu begleiten. Neben dieser Eigenverantwortung übe ich auch, Gelassenheit zu entwickeln. Ich plansche in einem Schwimmbecken von Ressourcen und lerne so viel von den Menschen um mich herum. Ich möchte in Zukunft meine Fragen noch klarer und aus einer inneren Ruhe heraus stellen können, zum Beispiel wenn ich ausdrücke, welche Unterstützung ich mir wünsche oder was ich mir unter einer Mentoren-Beziehung vorstelle. (J. v. L.)
Mit acht Jahren hatte ich das klare Ziel, Ballett zu lernen. Ich liebte diese strenge Disziplin. Sechs Jahre später bin ich, irritiert von der Eifersucht meiner Mitschülerinnen untereinander, bewusst aus dieser Laufbahn ausgestiegen. Seitdem erinnere ich mich nicht an Lernziele. Die für mich entscheidenden Themen kamen auf mich zu. Als ich 25 war, entschied ich mich, aus zunächst eher pragmatischen Gründen, beim Aufbau einer Fachzeitschrift für Geomantie mitzuwirken. Dass ich aus der Redaktionsarbeit ein Selbststudium in Naturphilosophie und Tiefenökologie machen würde, indem ich nun die spannendsten Denkerinnen und Denker in diesem Feld um Texte bitten konnte, hatte ich mir nicht träumen lassen. »Suche die besten Leute auf dem Gebiet, auf dem du etwas verwirklichen möchtest, und fange sofort an, mit ihnen zu arbeiten« – das war mehrfach mein spezifisches »Bildungsmuster«. Wobei dies nur die äußerlichste Ebene meiner Bildungslust beschreibt. Ihr zugrunde liegt eine seltsame Sehnsucht – vielleicht die Sehnsucht, Europa zu verstehen. (L. M.)
1996, als ich 17 Jahre alt war, bildete ich mir ein, an Krebs erkrankt zu sein. Einen Arztbesuch verschob ich in eine (ferne) Zukunft. Ich lebte wie in zwei Welten. Hier ein lebenslustiger junger Mann, der sich wie nebenbei durch Schule, Zivildienst, Reisen und den Studienbeginn bewegte. Und in der Stille des Schweigens waren Angst, Verzweiflung, Verdrängung und Wut über meinen und unseren krebserregenden Konsum- und Lebensstil. Denn ich konnte meine Situation auch als Metapher oder Spiegelbild einer größeren, über mich weit hinausgehenden Geschichte wahrnehmen. Kurz nach einem Vipassana-Retreat eröffnete mir 2006 ein chinesischer Arzt in Nordthailand, was später ein Schulmediziner bestätigte: Ich hatte gar keinen Krebs. Eine ebenso intensive Reise zurück in mein Leben begann. In dieser Zeit habe ich wohl mehr gelernt, als es in jedem Bildungsprogramm jemals möglich gewesen wäre. Wirklich aufregend und spannend wurde es, als sich innere Erfahrung und äußere Bildungsangebote gegenseitig verstärkten und miteinander verwoben. Zum Beispiel, als wir in der 11. Klasse die Club-of-Rome-Studie »Die neuen Grenzen des Wachstums« gleichzeitig im Mathematik- und Politikunterricht durchgenommen haben. Der Wahnsinn der industriellen Wachstumsgesellschaft und das Bild des vermeintlich wuchernden Krebses verknüpften sich. Später im Studium bewegte ich mich ständig im Spannungsfeld zwischen Kritik an dem universitären Programm und der kreativen Selbstgestaltung meines Studiums. Von dem interdisziplinären Studienprojekt »Bildung für nachhaltige Entwicklung« über die daraus entstandenen ersten Marburger Bildungsfeste bis hin zu selbstorganisierten und dennoch anerkannten Uni-Seminaren zum »Theater der Unterdrückten« – immer wieder hatten diejenigen Momente am meisten Bedeutung, in denen ich kein vorgegebenes Lernhäppchen zur Verfügung hatte. (D. W.)
Wo sich Menschen, die frei sich bilden wollen, begegnen, hängt zuvörderst von ihnen ab. Klar können sie durch die Lande ziehen und allerlei erfahren; manchmal ist aber ein fester Ort auch sinnvoll: eine Werkstatt, ein Laboratorium, ein Hörsaal, ein Konzerthaus, ein Theater, eine Bücherei, ein leeres Zimmer … Ich selbst, der ein ungewöhnlicher Student war, habe mich von der faszinierenden Autorität, die vor mehr als 500 Studierenden ihre Vorlesung abhielt, nicht unterdrückt gefühlt; was mir hierbei geschenkt wurde, wäre niemals möglich gewesen, wenn es dem Zufall, der Beliebigkeit überlassen worden wäre. (B. S.)
Ich erinnere mich an meine erste Spanisch-Lerngruppe, die ein schauderhaftes Niveau hatte, als ich sie übernahm. Dort hat es Spaß gemacht, entspannt zusammenzusein, mehr oder weniger Spanisch zu lernen, Fahrten zu unternehmen – es war eine kleine Heimat an der Schule, eine Gruppe, zu der man gehörte. Wir treffen uns immer noch. Inzwischen haben fast alle ein bis zwei Semester im spanischsprachigen Ausland studiert und sprechen die Sprache besser als ich damals im Unterricht. In dieser Gruppe gab es diese Magie, weil alle so sein durften, wie sie waren, und sich so eingebracht haben. (S. W.)
Damit Bildung sich im Dialog und Spannungsfeld zwischen möglichen Programmen und dem »Leben« entfalten kann, müssen wir erkennen, dass Sich-Bilden in den Zwischenräumen, im Ungewissen, im Spontanen stattfindet. Leben und Lernen entsteht zwischen Chaos und Ordnung – nicht in der heute allgegenwärtigen Kontrolle. Dass sich die Lernkultur radikal wandelt, steht außer Frage. Die (R)Evolution ist in vollem Gang, wir müssen ihr lediglich Platz machen und Raum geben. (D. W.)
Kultur und Meisterschaft Es bereitet mir großes Vergnügen, gebildeten Menschen zu begegnen. Ob es eine inspirierte Philosophin ist oder ein erfahrener Bootsbauer, spielt keine Rolle. Wahre Meisterschaft und Würde verkörpern für mich der Fiddler James Byrne aus Glencolmcille in Nordwest-Irland. Von ihm haben wir zauberhafte Melodien gelernt, die nirgends in Noten niedergeschrieben sind. Oder Bauer Paul aus unserem Dorf. Ich brachte ihm einmal ein appetitloses Kaninchen. Er berührte beiläufig dessen Bauch und sagte: »Das hat wohl Blasen an der Gebärmutter. Wir sollten es schlachten, bevor es schlimmer wird.« Seine Diagnose war richtig. Wie hatte er sie nur durch das sekundenschnelle Berühren stellen können? James und Paul kommen aus kulturellen Traditionen, die mit ihnen sterben. Ich habe nur einen Hauch davon aufgefangen, und ich frage mich, welche Traditionen ich selbst weitergeben will und kann. Das scheint mir eine zentrale Bildungsfrage zu sein. (L. M.)
Die Klärung der Bildungsfrage sollte, so denke ich, mit der Beseitigung eines bedauerlichen Missverständnisses beginnen: Was heißt »Freiheit«? Für uns – Zivilisierte, die wir mehrheitlich verschult wurden – weckt die Betrachtung von Bildung zumeist Assoziationen mit festen Regeln, mit klaren Ordnungen (und Unterordnung!), mit unveränderlichen Traditionen. Demgegenüber wird oft als freie Bildung bezeichnet, dass die als Ballast empfundenen Normen bloß überwunden, abgeworfen, beseitigt werden: Eine kulturelle Beliebigkeit soll also angeblich die errungene Freiheit repräsentieren. Aus meiner Sicht ist das ein fundamentaler Irrtum und ein dramatisches, weil folgenschweres, Missverständnis! Worum es hier geht, ist nichts weniger als die Beziehung von Struktur und Freiheit. Ob eine Kultur sich selbst ohne sichtbare Spuren von Generation zu Generation überträgt; oder ob sie für das Tradieren beispielsweise eine Verschriftlichung einführt und pflegt: Nie ist sie strukturlos oder unstrukturiert. Weder die singenden Troubadoure noch die Flamenco-Tänzerin, weder der seine Ragas interpretierende Sitar-Spieler noch die ihre Mandalas immer wieder neu »malenden« buddhistischen Mönche würden von sich sagen, sie fühlten sich unfrei; nein, ihre Freiheit spielt sich ab im Rahmen der jeweiligen Strukturen; und diese Strukturen ermöglichen sogar eine Steigerung von Freiheit. (B. S.)
Weder Bauer Paul noch James Byrne hatten wohl ausdrücklich die Absicht, Dinge weiterzugeben. Und doch tun sie es. Warum? Weil Menschen von Können und von Authentizität angezogen werden. Wir geben weiter, was wir authentisch sind. Eine Frage, die sich mir stellt, ist, ob man von Meisterinnen und Meistern ihres Könnens über kollektive Wissensfelder lernen kann. Denn jeder, der etwas kann, bringt diese Information ja mit sich. Meisterschaft und die Verbreitung von mündlichem Wissen folgen dem, was für die Gesellschaft gerade wichtig ist, um im Leben zu bestehen, und ist gnadenlos in Bezug auf das Aussterben weniger gefragter Sparten. Wie man Smartphones bedient, hat sich rasend schnell verbreitet. Ein anderer Punkt ist die Weitergabe von Werten in der Gesellschaft. Hier brauchen wir eine breite Basis der Auseinandersetzung, was uns als Gesellschaft wichtig ist. (S. W.)
Welche Überlieferungen und Traditionen könnten die letzten Generationen einer Prä-Kollaps-Gesellschaft im Übergang zur Post-Kollaps-Gesellschaft weitergeben? Bisher habe ich die Geschichte über meine Vorstellung, Krebs zu haben, nur mündlich erzählt, aber jetzt ist Zeit, sie aufzuschreiben. So, wie ich nach langen Jahren das Schweigen gebrochen habe, brechen mehr und mehr Menschen gemeinsam das Schweigen über unser krebserregendes Weltbild. Jene »Kultur des Schweigens« (Paulo Freire) in eine Kultur des Dialogs zu verwandeln, ist der Kern meiner Arbeit. Meine »zauberhaften Melodien« bestehen aus Räumen, in denen Menschen sich spielerisch begegnen und wir unsere mündlichen Erzählungen über uns selbst, die anderen und die Welt lebendig werden lassen. Eine der kraftvollsten Wege, in solche Räume einzuladen, habe ich von dem exil-kolumbianischen Theateraktivisten Hector Aristizabal gelernt, der mit seinem Solostück »Nightwind« über seine Folterung durch kolumbianische Militärs um die Welt reist. In Krisengebieten arbeitet er mit seiner speziellen Anwendungsweise des »Theaters der Unterdrückten«. Seit ich Hector 2009 kennengelernt habe, keimt in mir das Bild eines entsprechenden (Solo-)Theaterstücks über meine eigene Geschichte als Spiegelbild unserer größeren Geschichte. (D. W.)
Wie können wir die wirklich neuen Geschichten schreiben? Was sind die Narrative unserer Gesellschaft? Wie können wir sie erzählen? Wie kommunizieren wir das Neue, dem wir dabei helfen wollen, voller in die Welt zu kommen? Ist es unsere Aufgabe, auf das zu antworten, wonach die Welt uns fragt, was so dringend benötigt wird? Auch wenn das für uns selbst nicht unbedingt neu ist, sondern eben unseren Talenten entspricht? Ich will dem Ruf der Welt antworten, hinhören auf das, was mich in der Gesellschaft wütend, froh und traurig macht. In der Mischung aus dem, was gebraucht wird, und dem, was ich ganz persönlich dazu geben kann, formt sich mein Beruf, und ich antworte meiner Berufung. (J. v. L.)
Bildung ist lebendig Worum es bei der Erörterung der Bildungsfrage nicht geht: Es geht nicht um einen Gegensatz von informell tradiertem Wissen und »akademisch verankertem« Wissen; nicht um eine Unterscheidung von subjektiv-emotionaler und »rational-objektiver« Bildung; es geht auch nicht um die Trennung von »hiesigen« und »dortigen, fernen« Kulturen. Die einzige aus meiner Sicht wesentliche Unvereinbarkeit bezieht sich auf die Fragen: Dient diese Bildung der Identität der Person und ihres soziokulturellen Kontexts? Ist sie darin lebendig, dynamisch, menschlich? An welche Strukturen und Konventionen ist sie gebunden? Fördert sie die Freiheit? Oder dient diese Bildung einer akademischen Dogmatisierung? Bei der Bildungsfrage gibt es keine kompetenten oder angeblich inkompetenten Menschen: Jede Person ist, sozusagen gattungsmäßig, kompetent, um frei sich zu bilden und um zu gewährleisten, dass jeder andere Mensch dies auch vermag. (B. S.) So ist diese Lust, sich zu bilden, etwas derart Lebendiges, dass sie letztlich durch nichts völlig gebrochen werden kann. Sie sagt Nein zu Angst, Ungerechtigkeiten und Druck. Sie unterstützt auch keinen Egotrip, sie liebt die sinnhafte Beziehung zur Welt. Es gibt kaum ein mächtigeres Korrektiv für die Ungerechtigkeiten der Gegenwart, als diesem Impuls bedingungslos zu folgen. (L. M.)•
Gemeinsam miteinander gedacht haben:
Jara von Lüpke (23) studiert soziales Unternehmertum und Prozess-Design bei den »Kaospiloten« in Dänemark. Sie lernt mit ganzem Herzen, schreibt Geschichten, die Mut machen, entdeckt Gesprächskultur und vernetzt Menschen und Ideen. www.knowmadicjourney.wordpress.com
Lara Mallien (39) ist ursprünglich Bewegungskünstlerin. Seit 1997 arbeitet sie am Aufbau des »Zukunftswerks Klein Jasedow« mit, ist Vorstandsmitglied der »Europäischen Akademie der Heilenden Künste« und Chefredakteurin der Zeitschrift Oya. www.zukunftswerk-kleinjasedow.de
Bertrand Stern (64) ist freischaffend als Philosoph und Buchautor tätig. Im Mittelpunkt seines zivilisationskritischen Schaffens steht die (Selbst-)Befreiung des Menschen von Ideologien und Institutionen. www.bertrandstern.com
Silke Weiss (42) verbrachte eine glückliche Schul- und Studienzeit und wurde aus tiefstem Herzenswunsch Lehrerin. Sie war schon immer an Neuem interessiert. Heute hat sie die Schule verlassen und ist mit dem Projekt »LernKulturZeit« Suchende nach neuen Wegen in der Bildung. www.lernkulturzeit.wordpress.com
Dominik Werner (30) ist Vater und freiberuflicher Pädagoge. Er studierte Bildung für nachhaltige Entwicklung, Friedens- und Konfliktforschung und Theaterpädagogik. Heute widmet er seine Arbeit den Qualitäten von Gesundheit, Ökologie und Frieden. www.dominikwerner.net