Lernräume, Wandelträume
In Leipzig bereiten junge Menschen ein ambitioniertes Projekt für selbstbestimmtes Lernen vor. Räume renovieren, Mitstreiter und Themen finden – das ist derzeit ihr Programm.
Vor ein paar Jahren erzählte mir ein Bekannter, dass seine Tochter nach dem Abi zwei Monate durch Kanada gereist sei und bei sogenannten Couchsurfern gewohnt habe. Ich sah mir die Internetseite an, fand sie interessant – und erstellte mein Profil.
Da ich zu diesem Zeitpunkt eine Reise nach Leipzig plante, suchte ich direkt nach Gastgebern und fand das Profil von Annette. Nach kurzem Mailkontakt versprach sie, mich für drei Tage aufzunehmen, obwohl ich keine einzige Referenz vorzuweisen hatte. Das Bewertungssystem aufgrund von Referenzen soll sicherstellen, dass man einigermaßen vorbereitet ist, auf was für eine Person man treffen wird. Annette und ich verabredeten uns am Bahnhof, fuhren in ihre Wohnung und redeten bis spät in die Nacht. Es gab viele Gemeinsamkeiten, aber auch Trennendes, Ost-West eben.
Sie erzählte mir, dass sie in der DDR sehr darunter gelitten hatte, nicht reisen zu dürfen, und wie ihr Fernweh sie geplagt hatte. Heute lacht sie über den Eintrag in ihrer Stasi-Akte: »Frau H. verfügt über eine Reiseschreibmaschine«, eine Tatsache, die anscheinend besonders verdächtig war. Nach der Maueröffnung fuhr sie dann als erstes in die Stadt ihrer Träume: Paris. Seitdem reist sie leidenschaftlich gerne. Als das Couchsurfen aufkam, beschloss sie, sich zusätzlich zu ihren Reisen die Welt in ihre Wohnung zu holen. Einer ihrer ersten Gäste war ein Journalist aus England, der sich für die Geschichte der Nikolaikirche und der von dort ausgehenden Protestmärsche interessierte. Sie redeten die halbe Nacht, und am nächsten Morgen wurde sie von lautem Klopfen an ihre Zimmertüre geweckt. »Annette, sie machen dein Haus kaputt!«, rief der Gast aufgeregt, denn in seinem Zimmer rieselte der Putz von der Wand, und kleine Steinchen fielen in sein Bett. Annette konnte ihn beruhigen, denn es wurde lediglich das Nachbarhaus abgerissen, in jenen Jahren ein alltäglicher Vorgang in Leipzig. »Wow, I had my own Mauerfall«, verabschiedete sich der Brite von ihr.
Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
Die Zweifel, die einen überkommen können, kenne ich auch aus eigener Erfahrung. Unser erster Gast war Christine aus Wien, die anfragte, ob sie während ihrer Fortbildung in München bei uns schlafen könne. Ich bestätigte dies nach einem Blick auf ihr Profil. Dann gab es in der Familie meines Mannes einen Todesfall, und wir mussten am Morgen nach Christines Ankunft in aller Frühe zur Beerdigung fahren. Also blieb uns nichts anderes übrig, als ihr für die nächsten Tage unsere Wohnung zu überlassen. Sie kurzfristig auszuladen, brachten wir nicht übers Herz. Während des Wochenendes wurden wir mehr als einmal gefragt, ob wir denn keine Angst hätten, dass die fremde Frau unsere Wohnung ausräume. Unser Gefühl war zwiegespalten, aber unser Bauchgefühl ließ uns letztlich doch vertrauen.
Christine ist mittlerweile zu einer guten Freundin geworden.
Die Geister, die ich rief
Weil nicht alle Gäste und Gastgeber die Profile ihres Gegenübers jedoch gründlich genug lesen, kommt es auch vor, dass zu unterschiedliche Welten aufeinanderprallen. So sah sich eine Wohngemeinschaft von sieben Studenten in Passau, die ständig Gäste hat, eines Tages einem Couchsurfer gegenüber, der beim Abendessen freimütig über seine Arbeit im Atomkraftwerk berichtete. Es kam zur Konfrontation, und der WG-Rat beschloss, der Gast müsse am nächsten Morgen ausziehen, schließlich konnte man ihrem Profil im Internet und den vielen Plakaten in der Wohnung entnehmen, dass die Bewohner strikte Atomkraftgegner sind.
Fast schon Mitleid habe ich mit einem Gastgeber in Neuseeland, der auf seinem Profil den Hinweis gibt: »Ich bitte um Verständnis, dass ich nicht jede Anfrage beantworten kann. Da ich im Umkreis von 200 km der einzige Couchsurfer bin, bekomme ich bis zu 400 Anfragen in der Woche.« Er wohnt am Ausgangspunkt zu einem der beliebtesten Touristenziele der Südinsel.
Auch wir entschlossen uns nach einer Weile, zu bestimmten Zeiten unser Profil zu deaktivieren. Während des Kirchentags oder des Oktoberfests wäre unser Postfach sonst mit Anfragen überschwemmt worden. Und bei aller Toleranz wollten wir während der »Wies’n« keine feierwütigen, 19-jährigen Australier beherbergen, wenn wir am nächsten Tag arbeiten müssen.
Notaufnahme
Bei sogenannten Last-Minute-Gruppen können Bedürftige auch sehr kurzfristig einen Schlafplatz finden. Über einen Hilferuf kamen Alex und Liss zu uns, die tagelang in der ukrainischen Botschaft in München auf wichtige Papiere warten mussten. Eigentlich lebten sie seit sechs Monaten in einem Asylbewerberheim am Bodensee, während sie ihre Kinder in Kiew bei den Großeltern gelassen hatten. Wir erfuhren von ihnen viel über das Leben in der Ukraine und die Mühen, die sie auf sich nehmen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft in Deutschland zu ermöglichen.
Ob der Gast für die Übernachtung irgendeine Gegenleistung erbringt und wie komfortabel er untergebracht ist, ist alleine Sache der Beteiligten. Manche Gastgeber bieten eigene Zimmer mit Bad, andere eine Isomatte auf dem Wohnzimmerboden. Manche Gäste erbringen überhaupt keine Gegenleistung, andere kaufen kleine Gastgeschenke oder kochen ein Abendessen. Uns wurden zum Beispiel Yogastunden, Fensterputzen, Zeichenunterricht sowie afrikanisches und thailändisches Essen angeboten.
Das aber ist eigentlich das Schönste: Nicht das Gratiswohnen steht im Vordergrund, sondern der persönliche Kontakt, das Kennenlernen anderer Sitten und Lebensumstände. Aus diesem Grund gibt es in allen größeren Städten regelmäßige Treffen und Partys der Couchsurfer. Ich bin überzeugt, dass dort, wo so viele Menschen aller Nationen und Altersgruppen zusammenkommen, ein Grundstein zu einer friedlicheren Welt gelegt wird. Nicht selten ermuntern diese neuen Erfahrungen auch zu mutigen Lebensentscheidungen. So überlegt die Mittfünzigerin Christine aus Wien, demnächst in eine Seniorinnen-WG zu ziehen. •
Sylvia Buttler (43) ist Landwirtin und Autorin. Sie hat sich im Bayerischen Wald niedergelassen und züchtet dort bedrohte Haustierrassen.
In Leipzig bereiten junge Menschen ein ambitioniertes Projekt für selbstbestimmtes Lernen vor. Räume renovieren, Mitstreiter und Themen finden – das ist derzeit ihr Programm.
Kein Fleisch …… macht glücklich – und zwar wirklich gar keines: Auch nicht, wenn es aus Bio-Haltung stammt oder die Tiere – wie Fische oder Wild – vorher ein glückliches Leben hatten. Zumindest findet das der Biologe und Klimaexperte Andreas Grabolle.
Die Erde als Lehrerin, nicht als abstrakte Idee, sondern als braune Substanz, ist die Idee eines künstlerischen Bildungsprojekts – zur Nachahmung empfohlen!